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Stephan Huber und Reinhold Messner im Gespräch.

Aus dem Buch " Gran Paradiso". 2023


Stephan Huber

In der Kunsthalle Kiel im Jahr 2000 bist du das erste Mal auf eine meiner Arbeiten gestoßen. Dort stand meine Skulptur des Langkofel.

Reinhold Messner

Ich erinnere die Umstände nicht mehr genau, sehe aber deinen Langkofel genau vor mir.

SH Zwei Jahre später hast du dein erstes Museum auf dem Monte Rite eröffnet und dafür

Arbeiten von mir erworben. Ich fand es damals aufregend, dass du Berge wie die Civetta oder die Tre Cime, die Drei Zinnen, gewählt hast. Also Berge, an denen du selbst die schwierigsten Routen geklettert bist. Für mich war es wie eine doppelte, eine bergsteigerische und eine künstlerische Aneignung. Danach fing ich an, mich mehr mit dir zu beschäftigen, und habe gemerkt, dass es zwischen uns Ähnlichkeiten gibt.

RM Ja, ich kam profaner zu dir und deiner Kunst, ich habe damals angefangen, meine

Museumsidee zu entwickeln. Der Hintergrund dazu: Das traditionelle Bergsteigen, das traditionelle Abenteuer Berg ist ja mehr eine rein sportliche als eine kulturelle Erscheinung. Ein Berg lebt für mich nicht nur von seiner Form, seiner Erhabenheit, sondern auch von seiner Geschichte, die dahintersteht. Wenn ich einen Berg anschaue, wie den Cerro Torre in Patagonien, lese ich aus seinen Rissen, Leisten und Wänden, was darauf passiert ist. Er erzählt mir die ganze Geschichte. Und ich wollte mit meinem Museum nichts anderes, als die Berge als Ganzes zu fassen. Ich habe meine Erzählform gewählt, in erster Linie erzähle ich mithilfe von Bildender Kunst, Reliquien – also Überbleibseln von berühmten Bergsteigern, aber nichts Knöchernem – und Gerätschaften sowie kurzen Texten. Mein Bergmuseum auf Schloss Sigmundskron, wo du ja mitgearbeitet hast, ist das Zentrum dieser Erzählung: Was passiert zwischen Mensch und Natur? Die Antwort gebe ich in erster Linie mithilfe von Kunst. Deswegen brauchte ich deine Arbeiten, die inzwischen in allen Museen präsent sind. Die großen Skulpturen Civetta, Monte Pelmo und Langkofel haben ihren Platz im Zaha-Hadid-Bau am Kronplatz, der Antelao steht momentan noch mitten im Raum im Museum am Monte Rite. Ich plane ein neues Museum zum Thema Fels, dort soll er endgültig seinen Platz finden. Aber kommen wir doch nun zu uns.

SH Ich selbst erklettere meine Berge nur im nassen Modellierton im Atelier. Zwar auch mit den Händen, aber anders als du. Es ist körperlich ungefährlicher. Ich finde, dich unterscheidet fundamental von den meisten Bergsteigern, dass du das Bergsteigen von diesen Kameradschaftsgeschichten, vom Pathetischen und von nationalen Attitüden gelöst hast. Du hast das Bergsteigen individualisiert.

RM Richtig.

SH In dieser Individualisierung liegt für mich eine Modernisierung des ganzen alpinen Milieus. Heute muss das Individuum hochgehalten werden gegen stets nivellierende Kollektive. Für mich gab es zwischen uns Übereinstimmungen, wie zum Beispiel: einsame Entscheidungen treffen, nur für sich selbst verantwortlich sein oder, wie auf dem Caspar-David-Friedrich-Bild Der Wanderer über dem Nebelmeer, die Niederungen verlassen, oben auf dem Berg stehen und sich von der Welt abheben. Eine wunderbare Erhabenheit.

RM Auch ich arbeite an diesen Ideen, aktuell mit dem neuen Museum am Helm in Sexten. Ich versuche, Bilder zu finden, Kunstwerke, die starke Geschichten erzählen. Zum Beispiel, „vereint am Seil auf Leben und Tod“, ein alter Spruch, eine Botschaft. Wir Kletterer sind durch das Seil verbunden, auf Leben und Tod. Kürzlich habe ich eine Geschichte recherchiert, eine Tragödie. Ich kannte die Bergsteiger – drei der besten Bergsteiger der Welt – der jungen Generation. Sie waren in Kanada am Howse Peak in den Rockies schon 400 Meter vom Gipfel abgestiegen, eine sehr kühne Route durch eine Rinne, die am Vormittag von der Sonne beschienen war. Am unteren Ende dieser Rinne haben sie sich entweder wieder zusammengebunden oder waren gerade dabei, dies zu tun. Sie hatten wohl ein paar Haken zum Abseilen dabei, an denen sie sich auch sicherten. Und dann kam der Schnee als Nassschneelawine die ganze Rinne herunter und hat die drei Bergsteiger erfasst. Die Haken wurden herausgerissen, und sie sind 500 Meter durch die Luft gewirbelt worden. Tage später hat man die drei gefunden, alle tot natürlich. Die Seile hatten sich durch den Wind und den Fall so um die drei herumgeschlungen, dass sie zuletzt ein einziges Knäuel bildeten.

SH Schrecklich, ein totes Menschenknäuel.

RM Verbunden durch das Seil, auf Leben und Tod. Die andere Seite von Kameradschaft: Du hältst deinen Kameraden am Seil auf Leben und Tod. Die Natur ist so mächtig, so ungemein vielfältig, so kreativ, dass wir dazu keine klare Aussage machen können. Jede Aussage bekommt in diesem Zusammenhang eine fürchterlich tragische Bedeutung.

SH Ein trauriges, aber überwältigendes Bild.

RM Zu diesem Bild mache ich ein Kunstwerk, um es emotional zu unterfüttern.

SH Das realisierst du selbst?

RM Ja, aber nicht handwerklich, sondern als Vorstellung, als Ideengeber. Ich bin kein Künstler, ich bleibe Erzähler, rege Künstler aber häufig an, Ausdrücke für Ideen zu finden.

SH Bleiben wir beim Handwerklichen. In der Kunst ist Handwerk in Ordnung, aber hierfür ist es nur eine Voraussetzung von vielen. Ist es in deinem Metier genauso? Ich mag diese ganzen El-Capitan-Kletterer, die kalifornischen Hippies. Eine verwegene, kreative Truppe, die sich an der Wand immer wieder versuchte und sie auf neuen Routen bezwang. Lynn Hill, die du – glaube ich – sehr schätzt, hat das später auch geschafft, aber war sie denn mehr als eine sensationelle Handwerkerin?

RM Ja, sie war eher eine Tänzerin als eine Handwerkerin. Lynn Hill war die beste Wettkletterin, wurde eine großartige Bergkletterin und war in ihrer Eleganz – als Mädchen, klein, leicht, tänzerisch – unterwegs. Ihr Klettern war mehr Kunstform als Sport. In dem Moment, als sie oben war, schien ihre Kunst vorbei zu sein.

SH Ja, aber einer meiner Heroen, Royal Robbins, hat eben nicht nur perfekte Routen in den Fels geklettert, er schrieb auch viele wunderbare Sätze, die heute noch Bestand haben.

RM Ja, Royal Robbins ist eine besondere Erscheinung, er liegt auf meiner Linie.

SH Er war außergewöhnlich. Die Klarheit und damit auch das Intellektuelle sind wichtig, vor allem nach der Besteigung des Berges oder der Fertigstellung der Ausstellung im Atelier. Deine Bücher und deine Vorträge unterscheiden dich stark von denen anderer Bergsteiger. RM Na, es gab schon einige, die vor mir gut geschrieben haben. Paul Preuß, Lionel Terray, ein Walter Bonatti …

SH Auch Ausnahmeerscheinungen.

RM Ja, richtig. Aber es gab nicht viele, die sich, wie ich, selbstkritisch mit dem Bergsteigen beschäftigt haben. Die allermeisten widmen sich der Route, die sie klettern wollen: Erstbegehung, Winterbesteigung, Erstbesteigung, was auch immer. Du hast in der Vorbereitung zum Gespräch den Satz geschrieben, dass die Engländer einen ganz anderen Zugang zu den Bergen hatten. SH Um auf die Engländer zu sprechen zu kommen, muss ich ausholen. Ich komme aus dem Westallgäu, und vor mir lag die Nagelfluhkette als dioramenartige Sperre, als Grenze zum Süden.

RM Ja, als Widerstand.

SH Bei dir war es das von den Bergen eingeschlossene Villnößtal. Wir haben uns beide immer die Frage gestellt: Was ist dahinter? Du hast die Überwindung dieser Sperre oft als Entree für deine Vorträge genommen, als deine Initiation für den ersten Schritt in die Welt. Also ist unsere Bergobsession auch durch die Biografie geprägt. Wie kommen jetzt die ganzen englischen Kletterer aus London überhaupt dazu, aus einer damals schon vibrierenden Großstadt, die stank und laut war, plötzlich alpin zu denken, sich alpin zu bewegen und auch waghalsige Erstbesteigungen zu unternehmen?

RM Du hast es schon erklärt. Weil sie die Folgen ihrer Zeit zu ertragen hatten. Der Alpinismus

beginnt mit der Aufklärung, die in England zuerst griff, und mit der Industrialisierung. Die Industrialisierung zog Folgen nach sich, wie man in diesen Städten lebte, im Rauch, im Dreck – und da waren die sauberen Berge als Playground eine Gegenwelt. Die Engländer waren die Ersten, die das Bergsteigen von ihrer sozialen Situation aus entwickelt haben. Sie waren die Kolonialherren, weltweit, und haben auch die Berge kolonialisiert. Und sie haben gleich angefangen, über ihr Tun nachzudenken. Erste Bergbücher erschienen. Die ersten großen Bergbesteigungen und Bergbilder sind von Engländern. Die Engländer haben anfangs nicht fotografiert, sondern gezeichnet und gemalt. Einer von ihnen war Albert Mummery. Es waren aber nicht nur Engländer, auch die deutschen Brüder Hermann, Adolf und Robert Schlagintweit haben großartige Kunst von ihren Expeditionen hinterlassen.

SH Die waren auch von Johann Georg Dillis ausgebildet.

RM Ich habe leider noch keines ihrer Kunstwerke für meine Museen bekommen können. Die Anfänge dieser alpinistischen Welt haben wir Mitteleuropäer gar nicht wahrgenommen. In dieser ersten Zeit, in den ersten Jahren, waren nur arbeitende Alpler mit den Engländern unterwegs. Da waren die Bergführer, die Träger, die Wegzeiger aus den Alpen. Aber die eigentliche Auseinandersetzung mit dem Berg haben die Engländer gesucht, sie haben dafür Hilfen gebraucht, es dabei so gemacht wie in den Kolonien. Sie haben sich die Burschen von den Almen geholt, die ihre Rucksäcke trugen, ihnen Feuer machten und ihr Zelt aufstellten. Und diese ersten Bergsteiger, die traditionellen Bergsteiger, von Edward Whymper bis Mummery, Whymper ein fantastischer Künstler – Erstbesteigung des Matterhorns im Jahr 1865. Und nur weil Whymper Künstler und dazu ein guter Bergsteiger war, ist er so erfolgreich geworden. Weil er Bücher gemacht hat – allesamt gut geschrieben und mit seinen Stichen ergänzt. Davon konnte er gut leben, im Gegensatz zu den meisten Profibergsteigern heute. Whymper wurde als Künstler in die Alpen geschickt und hat sich dann erst in die Berge vernarrt. Er hat Bleibendes hinterlassen.

SH Der hat das auch intellektuell gesehen, oder?

RM Richtig.

SH Sozusagen im viel größeren Zusammenhang, leidenschaftlich, denkerisch. Du hast gerade

eben gesagt, die Brüder Schlagintweit hätten großartige Kunst hinterlassen, du hättest gerne eine Arbeit von ihnen. Wenn ich ein alpines Bild wählen könnte, würde ich immer eines von Giovanni Segantini nehmen. Diese Präzision, diese Klarheit, das Cinemascope-Artige und gleichzeitig das tief Existenzielle müsste dir doch auch gefallen.

RM Gefallen ist nicht mein Kriterium. Ich möchte, dass die Bilder oder Skulpturen Geschichten erzählen – mehrschichtig und unverwechselbar.

SH Nochmals zum Komplexen: Das Gegenteil davon war für mich immer Hillarys Antwort auf die Frage, warum er auf den Mount Everest klettern wollte. Er sagte: „Weil er da ist.“ Das ist flapsig schön, aber auch sehr wenig.

RM Das war nicht Hillary, das ist ganz wichtig, sondern George Mallory. Mallory, der 1921 den ersten Versuch am Everest unternommen hat. Der kam nicht hoch. 1922 hat er dann ein zweites Mal versucht, am Everest den Gipfel zu erreichen. Beim dritten Versuch ist er umgekommen. Er war vorher in Amerika auf Vortragsreise, und dort hat ihn ein Journalist gefragt, warum er immer wieder zum Mount Everest müsse. Er hatte es schon zweimal gewagt und gerade angekündigt, er gehe zum dritten Mal. Und da hat er gesagt: „Weil er da ist.“ Es war damals die einzig richtige Antwort. Aber heute trägt diese Antwort nicht mehr.

SH Sie würde heute nicht tragen?

RM Inzwischen ist alles bestiegen. Diese Antwort ist nur gut, weil der Berg noch nicht bestiegen war. Weil Versuche gemacht worden sind. Der Journalist unterstellt dir, du kommst das dritte Mal auch nicht hinauf. Aber er sagt auch, solange der Berg da ist und unbestiegen ist, werden Pioniere es versuchen – oder aber wird ein Alpinist den Aufstieg wagen.

SH Es ist ein sich Verbeißen, eine Obsession, ein Zwang.

RM Kein Zwang, eine Herausforderung. Wenn sich diese einmal festgesetzt hat – sie findet ja im Kopf statt, anfangs nicht draußen – will sie gewagt werden.

SH Obsessionen sind zielfördernd, können aber auch blind machen. Schnell ist man beim Tragischen, und die tragischen Schicksale haben mich immer interessiert, auch bei Bergsteigern wie Matthias Zurbriggen, von dem ich viel gelesen habe.

RM Ja, der ist eine interessante und tragische Figur.

SH Er hat sich in Genf erhängt. Er hatte zuvor viele großartige Touren gemacht.

RM Er hat in Neuseeland und Südamerika große Touren unternommen, als Erster hat er den Aconcagua bestiegen und war im Himalaya. Sein Problem war, dass er gescheit war, gebildet. Du musst dir klarmachen, dass diese Bergführer damals davon gelebt haben, daheim haben sie in Bauerndörfern, Berghöfen ein einfaches Leben geführt, sie hatten wenig Ahnung von Natur und Wissenschaft, von Kunst und Hintergründen. Zurbriggen war anders, er ist zum Beispiel bei einer Himalaya-Expedition vor Ort geblieben, um die lokale Sprache zu lernen. Bei der nächsten Expedition hat er seinen reichen Klienten, einen Engländer, geführt, der ihn mitgenommen hat, alles noch mit dem Schiff. Dieser ist dann draufgekommen, dass Zurbriggen den Herrn Baron an Hintergrundwissen überflügelt hat. Also hat er Zurbriggen künftig nicht mehr mitgenommen. Er hat es wohl nicht ertragen, vom einfachen Bergler beschämt zu werden. Das ist auch meine Erfahrung: Die Gäste wollen von dir als Bergführer am Fels geführt werden, nicht im Palast, so hat es mir auch mein Freund Hans-Peter Eisendle erzählt. Wenn die Gäste merken, dass du sie in ihrem geistigen Können und Wissen, in ihrem Erfassthaben überflügelst, nehmen sie dich nicht mehr als Führer. Sie wollen sich dem großartigen Bergsteiger, der sie am Seil hat, zumindest intellektuell überlegen fühlen.

SH Naja, sonst wäre es für sie total deprimierend.

RM Genauso ist es. Deswegen ist Zurbriggen zuletzt zerbrochen. Ja, er ist daran zerbrochen, als Bergführer mehr zu wollen, als das Seil zu führen. Niemand hat ihn mehr mitgenommen.

SH Traurig.

RM Ja, traurig. Er hat sich zurückgezogen, hat sich umgebracht.

SH Gehen wir vom Traurigen zum Positiven. Wenn ich Berge modelliere, suche ich sie

meistens nach ästhetischen Empfindungen aus. Nur manchmal entscheide ich mich für einen Berg, der historisch besetzt ist. Zum Beispiel die militärisch durchlöcherten Zinnen. Aber eigentlich leitet mich immer die Form, das Pyramidale, die Wände, das Solitäre. Wie hast du früher deine Berge ausgesucht, nach Schwierigkeiten der Routen?

RM Angefangen habe ich natürlich an den paar Bergen, die über dem Dorf aufragten, logischerweise zuerst mit den Eltern, weil ich nicht allein hingefunden hätte. Schon sehr früh war ich mit meinen Brüdern unterwegs, hauptsächlich mit meinem jüngeren Bruder Günther, wir haben uns dann zunehmend schwierigere Routen gesucht. Wir wussten, dass da vor uns schon andere geklettert sind, aber uns ging es nicht mehr um die leichtesten Wege, sondern um die Schwierigkeit. Wir haben uns psychisch gesehen so stark gemacht, durch das Finden immer schwierigerer Routen sind wir gewachsen. Und dann kam der nächste Schritt, der für uns nur ein kleiner war, weil wir ja kein Instrumentarium im breiten Sinne zur Verfügung hatten, um auf die Berge zu steigen. Der Verzicht wurde unser Motto. Mein Alpinismus war demnach von Anfang an reiner Verzichtsalpinismus. So habe ich meine Erfahrung auf die ganzen Alpen übertragen: möglichst wenige Haken, keine Bohrhaken, später keine Sauerstoffflaschen. Ich habe später diesen Stil auf die Achttausender übertragen. Als ich anfing, Achttausender zu besteigen, war das Vorgehen mit riesigem Aufwand verbunden. Am Nanga Parbat hatten wir 1970 neun Tonnen Ausrüstung dabei. Das muss man sich vorstellen: wie teuer es war, das alles an den Fuß des Berges zu bringen. Acht Jahre später habe ich den Berg allein bestiegen, mit insgesamt 60 Kilogramm. Und da wird erst klar, dass ich einen ganz neuen Zugang zum Berg gefunden habe.

SH Aber jetzt einmal eine ganz provokative Frage: Muss man den Nanga Parbat besteigen?

RM Nein, muss man nicht.

SH Warum haben sich dann so viele Bergsteiger daran abgearbeitet? Weil Hermann Buhl da war, weil er der deutsche Schicksalsberg ist? Aber das würde dich gar nicht betreffen, du bist ja ein Südtiroler.

RM Nein, mich nicht. Aber die Geschichte vom Nanga Parbat erzählt im Grunde den ganzen Alpinismus. Einer der großen Engländer, in diesem Fall Albert Mummery, versucht 1895 den Nanga Parbat mit zwei Kameraden aus England und ein paar Einheimischen zu besteigen. Sie scheitern. Am Ende verschwindet Mummery. Das greift der deutsche Schriftsteller Walter Schmidkunz auf.

SH Damals?

RM Nein, 20 Jahre später. Weil er die Briefe von Mummery, die in England erschienen waren, ins Deutsche übersetzte. Diese Briefe liest Willo Welzenbach.

SH Er war Stadtbaurat in München, ein großer Bergsteiger.

RM Willo Welzenbach war der beste Bergsteiger seiner Zeit. Er plante 1932 eine Expedition

zum Nanga Parbat zur Diamirseite. Er kommt aber aus mehreren Gründen nicht zum Zug. Einmal, weil Paul Bauer, der damals großen Einfluss im Expeditionswesen hatte, es im Hintergrund vereitelte. Wie er es vereitelt hat – ich habe ein Buch dazu geschrieben, Der Eispapst: Die Akte Welzenbach, so wurde Welzenbach damals genannt – ist ungut. Aber 1932, als die Expedition endlich stattfinden soll, kann er nicht teilnehmen, weil die Weltwirtschaftskrise ihn aus seiner beruflichen Position nicht frei lässt. Er übergibt das Leadership an seinen Freund Willy Merkl. Der geht, im Geist der 30er-Jahre, diesen Berg an. Sie kommen aber nur bis 7000 Meter hinauf. Zwei Jahre später kehren mehr oder weniger die gleichen Leute mit großem Aufwand zurück. Die umfangreichste, stärkste Expedition, die es bis dahin gab – Welzenbach ist diesmal dabei. Insgesamt zehn Menschen sterben bei dieser Expedition, vier Sahibs und sechs Sherpas, die größte Katastrophe bis dahin im Himalaya. Und auf diese Katastrophe hin übernimmt Paul Bauer das Leadership im deutschen Bergsteigen. Unterstützt von den Nationalsozialisten geht er hin, um die Toten vom Nanga Parbat 1934 bis 1937 zu „rächen“: 16 Tote. Eine Lawine hatte sie im Lager überrascht. Das deutsche Volk folgt diesem Heldentum. Man kann die Toten aber nicht rächen, der Berg ist absichtslos.

SH Das sollte allen Menschen klar sein.

RM Und damit wird diese Geschichte politisch besetzt. Der Nanga Parbat ist auch insofern spannend, als diese Verstrickungen klar werden.

SH Vorher habe ich schon mal von Individuum und Kollektiv gesprochen. Wenn man jetzt beim Nanga Parbat bleibt, sieht man diese nationalen Kollektive, die sich hochquälen. Für mich ist das absolute Gegenteil das Bild des ausgemergelten Hermann Buhl, der völlig allein vom Nanga Parbat herunterkommt. Das ist so ein modernes Foto, weil es die Individualität hochhält.

RM Oder umgekehrt, denn damals wurde das Ganze gedreht. Der Expeditionsleiter Karl Maria Herrligkoffer hat Buhl seine individuelle Leistung abgesprochen und gesagt, es sei eine kollektive Leistung gewesen. Obwohl er gegen den Willen des Expeditionsleiters – der hatte den Aufstieg in diesem Moment verboten – allein aufgebrochen war. Allerdings hatte nicht Buhl entschieden, sondern der ältere Hans Ertl. Der hatte per Funkgerät gesagt: „Wir gehen da hinauf und du kannst im Basislager gescheit reden, aber vergiss dein Verbot.“

SH Eine ganz wichtige Entscheidung zum Individualismus hin.

RM Richtig. Die Expedition 1934 war Gemeinschaftsleistung. Es war schon die Zeit des „Dritten Reichs“, Bündelung der Kräfte, Faschismus.

SH Lass uns wieder zu den Bergen kommen: Meine zwei Lieblingsberge sind Tre Cime und Ayers Rock. Tre Cime habe ich oft modelliert. Die drei Blöcke nebeneinander sind wie vom Künstler gestaltet, nichts erscheint zufällig, sie haben eine vollkommen harmonische Form-Masse-Beziehung. Die Natur verwöhnt uns hier mit einer perfekten Skulptur. Naturform und Kunstform decken sich. Ayers Rock ist das Gegenteil von Tre Cime, ein Alien in einer ebenen Wüste wie ein riesiger roter Kuhfladen. Toll, aber eigentlich unmodellierbar. Eine Bodenskulptur aus Eisen ginge.

RM Aber er hat eine sehr interessante Geschichte.

SH Ja, der Uluru, so heißt er bei den Aboriginal People, ist ein heiliger Berg und darf heute auch nicht mehr betreten werden. Gibt es für dich einen Berg, der völlig komplett ist, ästhetisch, geschichtlich?

RM Ja. Für mich gibt es keinen Zweifel: Es ist der Machapuchare.

SH Ehrlich? Den habe ich modelliert.

RM Den hast du modelliert?

SH Ja klar, ein faszinierendes Gebilde.

RM Er hat die kühnste Form, eine individuelle Form. So ist kein anderer Berg. Das Matterhorn, sagt man, hat auch eine einmalige Form, aber der Machapuchare ist eigenwilliger.

SH Ja, oben, das Gedrehte, als hätte ihn El Greco entworfen.

RM Es gibt aber mehrere Berge auf der Welt, die ähnlich ausschauen. Mount Assiniboine, heißt es, sei das Matterhorn in den Rockies.

SH Den mag ich gerne, den habe ich auch modelliert. Sogar imposanter als in der Natur.

Ich habe ihn noch pyramidaler gemacht. Es hat etwas Gottgleiches, die Natur einfach umzuformen.

RM Aber wirklich radikal anders ist der Machapuchare. Und das Wichtigste: Er ist unbestiegen.

30 Jahre lang habe ich in Nepal bis zum König gebettelt, dass ich eine Genehmigung für

einen Versuch bekomme. Ich habe sie nicht gekriegt. Er gilt als heilig. Aber wie er heilig geworden ist, ist interessant. 1956 hat Colonel James Roberts eine Genehmigung erhalten, den Berg zu besteigen. Sie haben es versucht, sind aber nicht zum Gipfel gekommen. Und dann ging Roberts zum König und hat gebeten, dass man den Berg für immer sperrt. Nur damit auch kein anderer hochkommt. So ist er heilig geworden. Also, profan heilig geworden.

SH Ich fand ihn schwierig zu modellieren, weil er zum Teil riesig abfallende Flächen hat, gerade an der Fischschwanz-Seite ohne die üblichen Strukturierungen. Die extreme Wandhöhe ist ganz schwer umzusetzen.

RM Wie du gesagt hast, er ist oben so gedreht.

SH Das macht es ja so schwierig, ihn zu modellieren. Was heißt Machapuchare eigentlich?

RM Übersetzt heißt es Fischschwanz. Ich habe ein Kunstwerk dazu aus Nepal, eine große Bronze, 300 Kilogramm schwer. Die Einheimischen sagen, er ist eine Göttin, die ins Meer gesprungen ist, wie ein Wal, und hinten ist die Flosse lebendig geblieben. Die Göttin ist im Wasser verschwunden.

SH Das ist also einer der ganz wenigen Berge, der nie bestiegen wurde. Beim Kailash glaube ich nicht, dass da nie jemand oben war. Das glaube ich einfach nicht.

RM Der Kailash ist natürlich bestiegen, und zwar von Milarepa, der auf den Sonnenstrahlen ritt und so vor 3000 Jahren den Gipfel erklommen hat. Die Mythologie sagt, dass der Kailash wieder bestiegen wird, aber ohne den Berg zu stören, ohne den Berg zu vergewaltigen.

SH Das ist ein schönes Bild. Was heißt das nun?

RM Ja, das ist ein sehr schönes Bild. Man darf den Berg nur berühren, nicht bezwingen, nur so wie Milarepa. Er ist auf Sonnenstrahlen reitend raufgeflogen, rauf in Lichtgeschwindigkeit. War ein Wettkampf. Und sein Gegner ist nicht hinaufgekommen. Aber es steht nirgends, dass der Kailash nicht bestiegen werden darf. Er darf nur nicht mit unguten Mitteln bestiegen werden, sagt das tibetisch-nepalesische Narrativ.

SH Und angenommen du wärst jetzt jünger, würde es dich reizen, heute heimlich auf den Kailash zu steigen?

RM Der Kailash ist kein besonders schwieriger Berg.

SH Nein, nicht wegen der Schwierigkeit. Sondern wegen der Grenzüberschreitung.

RM Nein. Ich würde mich viel mehr freuen, wenn ich den Machapuchare hätte besteigen dürfen.

SH Wo siehst du die Ähnlichkeit zwischen Künstlern und Bergsteigern?

RM In der Selbstverschwendung und der möglichen Selbstzerstörung. Also, bei uns Alpinisten ist das Tun radikaler. Wir verschwenden alle unsere Energie, unsere Kraft, unsere Fantasie, um irgendein unnützes Ziel zu erreichen oder ins Auge zu fassen. Und sind bereit, es bis zur Selbstzer störung zu verfolgen. Der Künstler tut es auch, wenn er völlig in seiner Sache verschwindet und aufgeht. Die meisten sind dann am Ende pleite und hängen sich auf.

SH Das ist jetzt sehr drastisch ausgedrückt. Viele Künstler leben am Rande der Armut oft bis zum natürlichen Tod. Das Problem gibt es auch bei Bergsteigern, die keine große Karriere machen. Wenn sie körperlich nicht mehr zu großen Touren fähig sind und auch nicht in der Lage sind, Bücher zu schreiben oder Vorträge zu halten, fallen sie aus ihrem Metier und wachen in einem Milieu der Armut auf.

RM Eine ähnliche Situation – auch Selbstverschwendung, Selbstzerstörung, wirtschaftlich gesehen – hätte mich beim Museumsprojekt Sigmundskron treffen können. Weil ich alles, was ich an Mitteln, Ideen und Kraft hatte, hineingesteckt habe.

SH Aber du hast doch immer alles, was du hattest, in dein jeweiliges Projekt gesteckt.

RM Ja, bei dem Achttausender hatte ich am Ende Mittel übrig, sonst hätte ich die Museen nicht aufbauen können. Doch am Anfang ging es wirklich um das wirtschaftliche Überleben. Du weißt, dass ich bei drei Museumsdirektoren gebettelt habe, mir zu sagen, ob das Museumsprojektö Sinn macht oder nicht. Alle drei haben gesagt: „No Chance.“ Heute sind wir bald 20 Jahre offen. Wir sind über die Coronakrise gekommen, und zwar ohne Subventionen. Viele andere Museen wurden subventioniert. Ich hatte einen Vertrag unterschrieben, dass wir ohne Zuschüsse auskommen müssen. Wir überleben es. Ich hatte meiner Tochter Magdalena, der heutigen Chefkoordinatorin, die Verantwortung übertragen, auch noch geholfen, aber sie hat das gestemmt. Der erste Schlüssel war, die Museen dorthin zu stellen, wo sie die Welt draußen – Landschaft, Natur und Licht – tragen. Also der Monte Rite steht grandios mit dem Thema Fels mitten in den Dolomiten.

SH Vom Ort her ist es mein Lieblingsmuseum.

RM Der Platz ist großartig. Und dass wir eine ehemalige Kriegsfestung nutzen, um die Spannung zwischen Mensch und Berg zu erklären, ist ein Glücksfall. Eine friedliche Ausstellung in früheren Schützengräben. Dass diese Festung auch noch an der richtigen Stelle liegt und im Grunde gute Architektur ist, mit diesem langen Gang, ist top. Funktioniert auch. Ist allerdings das schwächste Museum, das wir haben.

SH Du meinst gemessen an dem, was drin ist, oder?

RM Nein, nein, nein. Das Schwächste, was an Eintrittsgeldern hereinkommt.

SH Ja, die Leute müssen hochlaufen. Eigentlich ist es eine wunderbare Vorstellung, dass ich mir Kunst oder auch Kultur erarbeiten muss, durch einen zweistündigen Aufstieg, dass nicht immer alles ohne Anstrengung zur Verfügung steht. Wenn wir schon über Aufstiege reden: Wie wichtig ist Pervitin in der Geschichte des Alpinismus? Vielen Künstlern wird ja unterstellt, Drogen zu nehmen, vielen Alpinisten ebenso. Glaubst du, das spielt eine entscheidende Rolle?

RM Ja, bei den Bergsteigern ist das Thema da. Vor allem bei den Engländern und Amerikanern in den 70er-Jahren. Und heute bei den Jungen. Es ist Mode geblieben.

SH Ich habe von Jim Bridwell gelesen, dass er mit LSD am El Capitan ohne Seil herumgeklettert ist. Ich kann mir das nicht vorstellen, da ich ganz früher auch ein paarmal LSD genommen habe. Es scheint mir unmöglich, in so einem tranceartigen Zustand zu klettern.

RM Scheinbar fallen dann Ängste ab. Mit Doug Scott habe ich auch so ein Erlebnis gehabt. Leider ist er schon tot. Wir waren am Chamlang und haben eine Erstbegehung gemacht, es war ein Siebentausender. Am Abend sind wir in eine Spalte hineingekrochen, in eine Randspalte, um Schutz zu suchen. Wir hatten keine Zelte dabei – geplant keine Zelte dabei. Und es war kalt, es hat mir das Gesicht vollgeweht. Doug lag da, völlig apathisch, hatte sich am Abend etwas reingesteckt und dann geschlafen. Zugegeben war es ein großer Vorteil für ihn, Ängste, Zweifel und Schmerz ließen sich so beherrschen. Man sagt mir, alles das sei für die Jungen, die 20- bis 30-Jährigen oder die Generation Z, wie man sie heute nennt, selbstverständlich. Kann ich aber nicht bestätigen, weil ich ja nicht dazugehöre.

SH Hermann Buhl hat angeblich bei der Nanga-Parbat-Besteigung Pervitin genommen. Ich fand die Analogie mit den japanischen Kamikaze-Piloten immer spannend. Ein Kamikaze-Pilot weiß, dass er sterben wird. Der Extrembergsteiger hat immerhin eine größere Chance, zu überleben.

RM Buhl wäre wohl ohne das Zeug nicht mehr heruntergekommen.

SH Hast du je Drogen genommen?

RM Nein, ich habe nie Drogen konsumiert. Ich komme ja immer noch mit jungen Kletterern zusammen. Und die erzählen mir, es sei heute üblich.

SH Gut, das taten die El-Capitan-Kletterer auch, meine ganzen Yosemite-Favoriten und viele andere.

RM Damals hat das aber nicht angefangen. Begonnen hat das schon bei den Briten in den 1960er- und 70er-Jahren, also in der Hippiezeit, zuerst waren es die Amphetamine. Die Franzosen Maurice Herzog und Louis Lachenal hatten bei der Annapurna-Besteigung 1950 auch davonö eingenommen. Die Folge war dann, dass sie beim Runtergehen völlig irre waren, wirklich irre. Haben ihre Handschuhe oben liegen gelassen.

SH Da wundert es einen dann, dass da nichts passiert. Aber es ist so.

RM Ja, weil es auch ein Vorteil ist.

SH Weil die Angst weg ist.

RM Die Angst kostet sehr viel Energie.

SH Dein Umgang mit der Angst, dein Einzelgängertum, dein Sammeln, dein Schreiben, das Interesse am Universellen hat doch alles mit deinen mentalen Fähigkeiten zu tun.

RM Ich habe mich in das Ganze anders hineingearbeitet als die meisten anderen. Ich habe sehr früh angefangen, meine Welt der Berge zu beschreiben.

SH Gab es irgendeinen Moment, der dich ganz stark beeinflusst hat?

RM Ja, die Lektüre von Paul Preuß, so mit 16, 17 Jahren. Preuß war in Deutschland nicht zu haben, den gab es nicht zu lesen, es gab auch kein Buch. Es gab dazu aber ein italienisches Buch. Preuß war Jude und wurde damals aus der Geschichte gestrichen. Und ich habe ihn auf Italienisch gelesen. Bald bin ich draufgekommen, warum es ihn nur in italienischer Sprache gab. Der Autor allerdings war ein Romantiker, ein fürchterlicher Romantiker, der alles an Preuß verherrlicht hat. Und später habe ich dann durch die originalen Unterlagen herausgefunden, wer Preuß war und ist. Ich habe 1986 eine Biografie zu Paul Preuß geschrieben, die ich bald ergänzen möchte, weil ich wieder neue Unterlagen fand.

SH Und was ist da passiert? Du hast den Preuß gelesen und dann?

RM Dann wurden die Berge für mich etwas anderes. Dann waren sie nicht mehr nur diese Türme oder diese Möglichkeiten, da hinaufzuklettern. Sie wurden etwas Spirituelles oder von der Form her Kunstwerke. Ich sage nach wie vor, eine Plastik vom Cerro Torre ist und bleibt eine Plastik. Aber der wahre Cerro Torre ist nicht in einem Bild darstellbar, du musst mir dazu etwas Eigenständiges machen, für mich geht es am besten mithilfe von Sprache.

SH Ich habe die Berge nie nachgemacht. Ich habe das Vorbild genommen und nach meinen Vorstellungen modelliert, stark überhöht und in perfektem Weiß gegossen. Wenn mir irgendeine Seite nicht gefällt, modelliere ich sie eindrücklicher. Meistens bleiben eine oder zwei Ansichten stark an der Realität. Das sind dann meine Wiedererkennungsansichten. Ich bin immer auf der Suche nach dem idealen Berg, nach der idealen Skulptur. Außerdem entsteht durch die Kontextverschiebung aus der Natur in den Raum eine seltsame, surreale Überhöhung.

RM Die Routen, die wir klettern, sind ja wie Zeichnungen. Da liegt eben nicht nur die Linie dahinter, sondern auch das, was du erlebt hast. Es gibt keine Sportart, die derart viel Kunst, vor allem Literatur, hervorgebracht hat wie die Bergsteigerei.

SH Du hast auch einmal im Vortrag darüber gesprochen – es war im Lenbachhaus, in meiner großen Ausstellung –, wie eine bestimmte Linie in den Fels geklettert wird, wie eine Zeichnung auf einem Blatt Papier. Ähnlich hat es Royal Robbins einmal formuliert. Ich mag das, weil es so konzeptuell ist. Du überlegst dir also deine genaue Route im Vorfeld also rein konzeptuell?

RM Ja, die Linie habe ich im Kopf.

SH Und die Abweichung darf nicht zu groß sein. Weil es sonst möglicherweise zu gefährlich wird.

RM Ja.

SH Wenn dann die Vorstellung zusammenbricht. Das ist alles auch eine künstlerische Problematik, die ich ständig im Atelier erlebe.

RM Das Hingehen zum Berg mit einer Vorstellung im Kopf, von der Linie, von der Wand, von den Schwierigkeiten, von den eventuellen Gefahren, ist eine emotionale Annäherung. Das heißt, ich nähere mich diesem Berg und weiß nicht nur, wo der Berg steht, ich weiß auch, wie er beschaffen ist, an dieser Stelle, an jener Stelle. Und dann kommt das Abgleichen, ob ich überhaupt die Voraussetzungen habe, um diesen meinen Berg auf dieser Linie anzugehen. Ob ich zuletzt den Gipfel erreiche oder nicht, ist völlig sekundär. Es ist die Auseinandersetzung zwischen dem, was ich kann, wie ich mich einschätze, und dem, was ich erwarte. Ist das nicht in der Kunst ähnlich?

SH Das ist so, jedoch nicht so lebensgefährlich. Ein schwieriges Moment für Künstler ist manchmal die Erschöpfung und die Leere nach großen Ausstellungen. Ein seltsamer Blues nach dem Erreichen des Ziels. Eigentlich fängt dann der zweite Teil meiner Arbeit an, nämlich die Rezeptionsebene zu behandeln. Ich gebe Interviews, ich versuche, meine Ideen und Ausgangspunkte zu erklären.

RM Ich finde, du solltest nicht erklären, sondern erzählen.

SH Bei mir verschwimmen Erklärung und Erzählung, bei mir verschwimmen Fiktion und Realität. Das wäre für einen Alpinisten lebensgefährlich.

RM Das Bild oder die Plastik ist immer auch ein Narrativ. Ein Narrativ, das erzählt, wie der Gipfel erreicht wurde, oder bei dir, wie das Kunstwerk entstanden ist. Das ergibt ein Ganzes. Nachdem du Royal Robbins so schätzt, warum versuchst du dann eigentlich nicht, den El Capitan und seine Route, die Salathé, auf eine Leinwand zu bannen? Ein Kunstwerk vom Weg durch die Vertikale.

SH Okay, den Weg durch die Vertikale übernehme ich jetzt einmal als gemeinschaftliche Idee, aber nicht auf Leinwand, sondern als dünne Linie aus Stahl, leicht vor der Wand schwebend. Das ist skulpturaler.


BILD

Reinhold Messner und

Stephan Huber in der

ERES Stiftung, München

Reinhold Messner and Stephan

Huber in the Eres Foundation,

Munich, Germany




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